Am 14. Juni setzte die US-Notenbank die Zinserhöhungen endlich aus, behielt aber ihre restriktive Rhetorik trotz der deutlich besseren Inflationszahlen bei. Die Botschaft war verwirrend, und auch ihr Überbringer, der Fed-Vorsitzende Jerome Powell, klang etwas verwirrt. Einmal hü und einmal hott – so kam die Nachricht beim Empfänger an. Doch Powells grundsätzliche Aussage war «so lange wie notwendig».
Ein paar Tage später wiederholte sich die Szene in ähnlicher Form, als die Europäische Zentralbank die Zinsen anhob und gleichzeitig erklärte, es sei zu erwarten, dass «die Inflation noch zu lange zu hoch bleibt».
Die hartnäckig hohe Kerninflation bei Dienstleistungen ist nicht zuletzt den angespannten Arbeitsmärkten geschuldet, insbesondere in den USA. Nichtsdestotrotz, und um die Verwirrung noch grösser zu machen, wurden im US-Finanzdienstleistungssektor Zehntausende von Stellen abgebaut und die Arbeitsmarktsituation als so schwach wie zuletzt während der globalen Finanzkrise 2008 beschrieben wird.
Die Kredit- (z. B. für Collateralized Loan Obligations) und Ramschanleihenmärkte sowie das Bankengeschäft in den USA zeigen allesamt Anzeichen von Stress und sinkender Liquidität. Ausfälle bei Ramschkrediten haben infolge der aggressiven Zinsschritte der Federal Reserve ebenfalls stark zugenommen. Dementsprechend steigen die Kosten für Kreditnehmer weiter, und ihre Margen und Gewinne geraten unter Druck, da sie dadurch in die Defensive geraten und neuen Kreditgebern attraktive Renditen bieten müssen. Dies ist eine typische Auswirkung des Rückgangs bei den Bankkrediten, weil die entstandene Lücke von Schattenbanken und Kreditinstituten ausserhalb des regulären Bankensystems gefüllt wird. Eine weitere Ursache für die Verknappung der Kredite sind die grossen Bankenpleiten im Frühling dieses Jahres.
Für Quality Growth Investoren sind diese Fakten besonders relevant, da die Quasi-Abwesenheit von Nettoschulden bei unseren Portfoliounternehmen das Herzstück unserer wahrhaft qualitätsorientierten Quality Growth Anlagephilosophie ist, die sich selten als so bedeutsam erwiesen hat wie in dieser Periode steigender Zinssätze. Der defensive Charakter solcher Quality Growth Anlagen in Verbindung mit ihren Wachstumsaussichten und Renditen auf das investierte Kapital (und einer Reihe anderer entscheidender Attribute) hat sich in den Aktienkursen dieser Unternehmen im Jahr 2023 deutlich niedergeschlagen. So blieben sie von den steigenden Kosten für Geld weitgehend unberührt, zeigten weiter die Merkmale von erstklassigen Unternehmen und konnten in einem für durchschnittliche Unternehmen schwierigen Umfeld Wachstumserwartungen erfüllen und oft sogar übertreffen.
Das ist es, was unsere Unternehmen vom durchschnittlichen Value-Anlageportfolio unterscheidet, bei dem die Abwesenheit (oder weitgehende Abwesenheit) von Nettoverschuldung keine Priorität darstellt. Zwar kann ein niedriges Kurs-Gewinn-Verhältnis ein solches Portfolio bei oberflächlicher Betrachtung attraktiv erscheinen lassen. Doch tatsächlich kann dieser Wert aus vielerlei Gründen niedrig sein und dem Value-Anleger ein trügerisches Gefühl der Sicherheit vermitteln. Denn es wird erwartet, dass sich die Ausfälle auf den Kreditmärkten in der vorhersehbaren Zukunft fortsetzen.
China senkte unterdessen seine Leitzinsen, da die Konjunktur weiterhin ausgesprochen enttäuschend ist. Die Unterschiede bei den jeweiligen Ansätzen zur Bekämpfung der Inflation treten nun deutlicher zutage als in den vergangenen Monaten, als die Inflation überall nach oben tendierte. De facto divergieren die Inflationsraten der verschiedenen Volkswirtschaften, ebenso wie die Komponenten, die ihnen zugrunde liegen. Dasselbe gilt für die Inflationserwartungen. Anders als letztes Jahr stellt dies die Geldpolitik vor eine noch grössere Herausforderung.
Alle Augen sind nunmehr auf die Zentralbanken gerichtet. Der «Kampf der Titanen» zwischen den Märkten für festverzinsliche Anlagen einerseits und den Zentralbanken anderseits setzt sich ungebrochen und von lautem Medienecho begleitet fort. Die Volatilität der Kurse für Unternehmensanleihen ist in jüngster Vergangenheit stark gestiegen, und sogenannte risikofreie Emittenten wurden potenziell anfällig, allen voran jene von US-Treasuries. Dies führte zu einer Debatte um das tatsächliche Risikoniveau, das mit dem Konzept der Kreditvergabe an die US-Regierung – oder an andere westliche Regierungen – verbunden ist.
So macht das US-Haushaltsdefizit mittlerweile satte 8.25 Prozent aus. Die aggressive Geldstraffungspolitik der Federal Reserve hat den Geldhahn für den US-Haushalt nun (vorübergehend) zugedreht. Dass der Aussenwert des US-Dollars auf hartnäckig niedrigem Niveau verharrt, ist eindeutig dem Haushaltsdefizit geschuldet, wie schon in der Vergangenheit.
Die quantitative Straffung wird sich fortsetzen, trotz der Aussetzung der Schuldenobergrenze in den USA, die wiederum zu einem weiteren massiven Liquiditätsabfluss führen könnte, da das US-Finanzministerium wieder Kredite aufnimmt und die Kreditgeber/Investoren von den Bankreserven abgezogen werden. Auch wenn es sich hier um ein Worst-Case-Szenario handelt, ist die Frage durchaus berechtigt, ob die Liquidität Schaden nehmen wird, und was dies für das Bankensystem bedeuten würde.
Inzwischen ist in den westlichen Industrieländern der Anteil der gewährten Kredite am BIP – ein Frühindikator für finanzielle Anfälligkeit – explodiert. Ein solcher Verschuldungsgrad ist in Anbetracht des aktuellen Zinsniveaus nicht tragbar. Auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass ein Rückgang von 1.5 bis 3 Prozentpunkten bevorsteht, was allen Kreditnehmern – privaten und öffentlichen – helfen würde, deckt sich ein solches Szenario nicht mit den allgemeinen Prognosen für Zinsen (und Inflation), die voraussichtlich noch länger auf hohem Niveau bleiben werden.
Doch all der Unsicherheit und negativen Stimmung zum Trotz sind die Aktienkurse an den Märkten der Industrieländer in diesem schwierigen Jahr gestiegen. Pessimisten wenden hier ein, dass diese Kursanstiege auf eine kleine Anzahl von gehypten Tech-Titeln, und allen voran auf solche mit Bezug zu Künstlicher Intelligenz, begrenzt waren. Dieselben Pessimisten argumentieren überraschenderweise, dass sowohl die USA als auch Europa im Laufe des Jahres in eine Rezession eintreten werden (oder bereits eingetreten sind), und dass jede weitere schlechte Nachricht die Aktienkurse weiter belasten wird. Dabei vergessen sie jedoch, dass sich die Aktienmärkte seit den Tiefstständen im Oktober 2022 wieder kräftig erholt haben.
Optimisten sehen das alles etwas anders. Sie sind schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass die Rolle der Aktienmärkte vielmehr darin besteht, vorauszuschauen, anstatt auf Nachrichten und Ereignisse zu reagieren. Der Bärenmarkt des letzten Jahres war für sie – zu Recht oder zu Unrecht – ein Hinweis darauf, dass die westlichen Volkswirtschaften in eine Rezession abgleiten werden (was in einigen wichtigen Märkten bereits in geringem Ausmass eingetreten ist und auch in anderen Volkswirtschaften geschehen könnte). Die Frage, ob Bärenmärkte manchmal irren können, ist derzeit Gegenstand hitziger Debatten. Für Optimisten und Quality Growth Investoren ist diese Diskussion von Makrofaktoren nicht relevant, wenn es darum geht, in akribischer Arbeit festzustellen, ob ein Quality Growth Unternehmen die 10 Goldenen Regeln erfüllt.
Von entscheidender Bedeutung ist jedoch die Frage, in welchem Ausmass die Zinssätze und Anleiherenditen steigen werden, ob die Straffung der Geldpolitik weitgehend abgeschlossen ist oder ob die führenden Zentralbanken die letzte Runde erreicht haben und es früher oder später der chinesischen Zentralbank nachtun und ihre Geldpolitik wieder lockern werden.
Diese Frage wird auch heute, am längsten Tag des Jahres, nicht beantwortet werden können. Doch der Quality Growth Anleger lässt sich von seiner Grundüberzeugung leiten: Es ist besser, mit einem Quality Growth Unternehmen langfristig auf Kurs zu bleiben, als sich von billigen Unternehmensanleihen in gefährliche Gewässer locken zu lassen.
P. Seilern
21. Juni 2023
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