Im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 wurde der Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act 2010 (Dodd-Frank Act) unter der Regierung von Präsident Barack Obama auf Initiative von zwei demokratischen Politikern, Barney Frank und Christopher Dodd, verabschiedet. Dies war ein komplexes Gesetzeswerk, das 848 Textseiten umfasste und dessen Verabschiedung mehrere Jahre dauerte. Ziel des Gesetzes war es, eine Wiederholung der globalen Finanzkrise durch verstärkte Kontrolle der Finanzmärkte seitens der Politik zu verhindern und große, „too-big-to-fail”-Banken dazu zu verpflichten, ihre Kapitalpuffer aufzustocken. Nach der Wahl von Donald Trump 2017 ins Weiße Haus wurden einige Aspekte des Gesetzes aufgehoben – nur, um abermals verabschiedet zu werden, als Joe Biden 2021 Präsident wurde.
Dieser Newsletter soll nicht alle Aspekte des Dodd-Frank Act beleuchten, sondern stattdessen analysieren, ob bestimmte Aspekte des Gesetzes nicht nur für die aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten relevant sind, sondern ob sie darüber hinaus auch als Beitrag zu den gravierenden gleichzeitig stattfindenden Verwerfungen an den britischen Obligationsmärkten angesehen werden könnten. Es bleibt auch abzuwarten, ob und wie sich diese Turbulenzen in anderen Ländern oder Währungszonen (wie der US-Dollar-Zone oder der Eurozone) wiederholen und die vielen Pensionsfonds destabilisieren könnten, die gesetzlich verpflichtet sind, den Löwenanteil ihrer Portfolios in festverzinsliche Wertpapiere zu investieren.
Viele Personen der Öffentlichkeit haben den Dodd-Frank Act verdammt als Dämpfer für die Wettbewerbsfähigkeit der US-Finanzinstitute und als Türöffner für Wettbewerber aus dem Ausland, wo das Gesetz keine Gültigkeit hat. Ein wesentlicher Bestandteil des Gesetzes war die sogenannte Volcker-Regel, benannt nach Paul Volcker, dem angesehenen ehemaligen Chef der US-Notenbank.1 Zusätzlich zu den höheren Mindestkapitalanforderungen für US-Banken legte die Volcker-Regel eine Obergrenze für das Eigenkapital fest, das eine Bank für den Eigenhandel in bestimmten Finanzmärkten verwenden kann. Vor der Verabschiedung des Gesetzes waren Banken große Akteure in Wertpapiermärkten und fungierten als Käufer oder Verkäufer, was dazu führte, dass Marktliquidität im Überfluss vorhanden war. Nach der Einführung des Dodd-Frank Act mussten Banken nicht nur höhere Barbestände vorhalten, sondern konnten auch nicht mehr in einer Art und Weise Wertpapiere handeln, die auf Gewinnerzielung ausgerichtet war. Das hat dazu geführt, dass ihre Fähigkeit und ihre Vorliebe, als Market Maker und Liquiditätsbereitsteller zu agieren, in Bereichen eingeschränkt waren, in denen ihre Aktivitäten für einen funktionierenden Markt von entscheidender Bedeutung waren. Während also kleinere Banken und ihre Kunden in Folge der strikteren Kapitalanforderungen unzweifelhaft geschützter vor einem weiteren finanziellen Armageddon waren, führte die geschrumpfte Liquidität an den Finanzmärkten zu einem Anstieg anderer Risiken – Risiken, die heute erkannt werden können.
Diese geschrumpfte Liquidität ist am gravierendsten für die Rentenmärkte, wo die Festsetzung eines Anleihekurses für den Markt nicht durchgängig gilt und wo ein konstantes Angebot von Käufern und Verkäufern nicht einheitlich vorhanden ist. Als der ehemalige britische Schatzkanzler Kwasi Kwarteng im letzten Berichtsmonat die Welt durch die Ankündigung unverantwortlicher Finanzmaßnahmen in seinem Mini-Budget schockierte, versiegte die Liquidität des britischen Obligationsmarktes, da Defined-Benefit-Pensionsfonds durch Nachschussforderungen gezwungen waren, ihre Bestände an Papieren, die eigentlich ihre liquidesten Vermögenswerte sein sollten – nämlich Staatsanleihen – alle auf einmal aufzugeben. Da jeder verkaufte, gab es keine Käufer mehr, wodurch der Kurs dieser Anleihen weiter einbrach und die Renditen in einer sich selbst antreibenden Rückkoppelungsschleife sogar noch höher stiegen, bis die Bank of England in letzter Minute einschritt. Die Ironie ist, dass das Problem durch eine Risikomanagement-Strategie namens Liability-Driven Investment verursacht wurde, die vor Zinsbewegungen schützen soll. Es war ein Moment des Schocks und des Staunens, der zum Sturz der jungen britischen Regierung führte, als alle Augen auf die Misere der City of London gerichtet waren. Alle Beobachter stellten die gleiche Frage: Wo wird die nächste Hiobsbotschaft zuschlagen?
Die Zeit wird zeigen, welche Ratschläge oder Regeln Regierungen in den kommenden Wochen und Monaten vorbringen werden. Britische Rechtsexperten arbeiten nun an Reformmaßnahmen, die es betroffenen Pensionsfonds ermöglichen würden, Sachwerte als Sicherheiten bei ihren Hedgefonds einzubringen, und so einen universellen Run auf den Obligationsmarkt zu vermeiden, wie er kürzlich zu beobachten war. Im Gegensatz dazu sind Beobachter verblüfft angesichts der von der niederländischen Regierung erteilten Ratschläge für ihre eigenen Pensionsfonds. Die Regierung fordert Pensionsfonds dazu auf, ihre liquiden Vermögenswerte dadurch zu erhöhen, dass sie Anleihen gegen Barmittel verkaufen – in Erwartung des Ausbruchs einer ähnlichen Krise in den Niederlanden. Mit anderen Worten, liebe Pensionsfonds, Sie müssen für Ihre Pensionäre einen permanenten Kapitalverlust absichern, dass Sie diese Vermögenswerte so schnell wie möglich zu Tiefstpreisen verkaufen.
Das muss man mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.
Das britische Pensionsdebakel erinnert daran, dass das Risiko nicht wirklich ausgemerzt werden kann. Oft wird es lediglich in eine andere Ecke des Systems verschoben. Die Frage ist nur, wohin? Ein Teil der Antwort ist wahrscheinlich „nicht zu Banken”, was auf die durch den Dodd-Frank Act eingeführten Reformen zurückzuführen ist.
Wer hat dann die ehemaligen, in eigenem Auftrag handelnden Banken ersetzt, um einen Markt für ansonsten illiquide Wertpapiere zu schaffen und inwieweit besteht Transparenz? Können potenzielle Anleihekäufer entsprechende Verkäufer finden oder, was in dieser panischen Phase steigender Zinsen und Anleiherenditen viel wichtiger ist, wo können Verkäufer Käufer finden? Die Wichtigkeit dieses Themas kann gar nicht genug betont werden. Das größte Problem an den Finanzmärkten ist heute der seit vielen Monaten vorhandene Liquiditätsengpass. Dieser droht sich zu einer Liquiditätsverknappung zu entwickeln, gefolgt von einer Solvenzkrise, die sich in viele Ecken des Marktes ausdehnt.
Ein weiterer – aufschlussreicherer – Teil der Antwort kann das Schattenbanksystem sein. Nachstehend finden Sie einige Informationen der irischen Zentralbank zum Schattenbanksystem:
Bei der klassischen Kreditvergabe ist das Kreditvolumen einer Bank mit dem Volumen der Einlagen verknüpft, die die Bank erhält, und damit, was sie an den Märkten aufnehmen kann. Das Schattenbanksystem funktioniert nach demselben Prinzip. So erhält beispielsweise ein Investmentfonds Geld von den Anlegern und gibt im Gegenzug Anteile am Fonds aus. Um für seine Anleger eine Rendite zu erwirtschaften, verwendet der Fonds dieses Geld, um Wertpapiere (zum Beispiel die Anleihe eines Landes oder eines Unternehmens) zu kaufen.
So wie die Bank als „Mittelsmann” zwischen Sparern und Schuldnern agiert, um einen bestimmten Zinssatz zu erhalten, fungiert der Investmentfonds als Kanal, der Anleger und Länder/Unternehmen miteinander verbindet, um eine Anlagerendite zu erwirtschaften. Durch die Beschaffung von Geldern bei Anlegern und die anschließende Vergabe dieser Gelder an Länder/Unternehmen handeln Schattenbanken wie Banken.”2
Per Definition ist diese Tätigkeit weniger streng reguliert und überwacht, da sie nicht von systemrelevanten Banken durchgeführt wird. Zu den Schattenbanken zählen etwa Investmentfonds, wie Renten- und Aktienfonds, Hedgefonds und Private-Equity-Fonds. Abgesehen von der Größe des heutigen Schattenbanksektors, der nach engen Definitionen auf über 60Billionen US-Dollar geschätzt wird, und – nach breiteren Schätzungen – auf bis zur Hälfte aller finanziellen Vermögenswerte, spielen3 Rentenfonds weltweit in diesem Bereich eine zentrale Rolle.
Wie Banken sind die Aktivitäten dieser Fonds prozyklisch. Die Liquidität war im Aufwärtstrend unterstützend, da das Wachstum des verwalteten Vermögens (Assets under Management, AUM) dieser Fonds ihre bankähnlichen Aktivitäten ermöglicht hat, indem sie mit dem von ihren Anlegern aufgebrachten Kapital Anleihen von Unternehmen und/oder Staaten im Tausch gegen Anteile an ihren Fonds kauften (und verkauften). Manchmal werden die Schuldtitel mehrerer Unternehmen (häufig solcher mit Junk-Rating) gebündelt und in Tranchen anleiheähnlicher Wertpapiere, die als Collateralized Loan Obligations (CLOs) bezeichnet werden, gepackt. Anleger wie etwa Pensionsfonds sind an diesen Schattenbankaktivitäten beteiligt, wenn sie in Fonds investieren, die diese CLO-Anleihen halten.
Es ist schwer zu verstehen, wie diese offenen Fonds, die auf Wunsch eine Umwandlung ihrer Anteile in Barmittel versprechen, auf einen geordneten und liquiden Markt vertrauen können, wenn die Abflüsse die Zuflüsse zu übersteigen beginnen, so dass sie zu Nettoverkäufern werden. Wie Banken sind sie anfällig für „Runs”, wenn Anleger gleichzeitig ihre Anteile zurückgeben, um Barmittel zu beschaffen. Wie wir am britischen Rentenmarkt gesehen haben, kann der Einsatz von Fremdkapital diese destabilisierende Dynamik verstärken, wenn Kursrückgänge zu Zwangsverkäufen führen, um die Margenanforderungen zu erfüllen.
Während der Dodd-Frank Act die Rechenschaftspflicht und Transparenz im Bankensektor förderte, besteht die Ironie darin, dass es aufgrund der Opazität dieser „Schatten”-Bankgeschäfte schwierig ist, zu quantifizieren, wie weit und tief und in welche Ecken des Marktes sie sich erstrecken. Wie werden sich beispielsweise steigende Kreditkosten und der erstarkende US-Dollar auf die Unternehmen auswirken, deren Schuldtitel versprechen, die veräußerbaren Wertpapiere zu sein, auf denen das verwaltete Vermögen dieser Rentenfonds aufgebaut wurde? Es sind nicht nur direkte Ausfälle, sondern auch Herabstufungen der Ratings, die „Runs” auslösen könnten. Finanzmärkte sind heute stärker miteinander verbunden als während der globalen Finanzkrise. Können wir sicher sein, dass kein einzelner Fonds oder kein einzelnes Unternehmen so groß oder so sehr mit anderen verknüpft ist, dass es eine Kettenreaktion auslöst? Das Problem ist, dass die politischen Entscheidungsträger immer nur den gerade aktuellen Brand bekämpfen.
Zugegebenermaßen haben wir mehr Fragen gestellt, als wir versucht haben, zu beantworten. Für den Anleger in Qualitätswachstum sind unsere Unternehmen – viele davon die liquidesten und qualitativ hochwertigsten Unternehmen der Welt – möglicherweise nicht immun gegen die Turbulenzen, die sich aus einer Liquiditätsverknappung im aktuellen Marktumfeld ergeben könnte. Ein Bewusstsein dafür, was die Aktienkurse beeinflussen könnte, nämlich die Kapitalflüsse und nicht die Fundamentaldaten, gibt uns jedoch die Möglichkeit, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und das ist, so zuversichtlich wie nur möglich zu sein, was die Fähigkeit unserer Unternehmen betrifft, ihre Gewinne im Laufe der Zeit kontinuierlich zu steigern – denn auf lange Sicht sind es die Gewinne, die die Aktienkurse letztlich bestimmen.
P. Seilern-Aspang & C. Hoelzl,
31. Oktober 2022
1Paul Volcker wurde vor allem in den 1970er-Jahren und Anfang der 1980er-Jahre berühmt, als die weltweite Inflation – mehr noch als heute – stark anstieg. Seine legendäre Leistung liegt in der Bekämpfung der Inflation durch unnachgiebige Straffung der Geldpolitik, die bis zum unerfreulichen Wiederaufflammen der Inflation im Jahr 2021 anhalten sollte. Nach Putins barbarischem Angriff auf die Ukraine in diesem Jahr verschlimmerte sich die Inflation jedoch erneut.
2Central Bank of Ireland, Explainer – What is Shadow Banking? (2022)
3At the end of 2020: Financial Stability Board, Global Monitoring Report on Non-Bank Financial Intermediation (16 December 2021) Global Monitoring Report on Non-Bank Financial Intermediation 2021 (fsb.org), p.3.
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