In den letzten zehn Jahren gab es einen deutlichen Wandel von aktiven hin zu passiven Anlagestrategien. Wenngleich viel Zeit damit verbracht wird, die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Markteffizienz und die Renditen der Anlageklassen zu verstehen, wird weniger diskutiert, welchen Einfluss dies auf die Aktionärsabstimmung hat. Jedes Jahr stimmen die Aktionäre börsennotierter Unternehmen in der Jahreshauptversammlung (JHV) über Fragen der Corporate Governance ab. Die Themen können von Routinefragen, wie der Wahl und Vergütung der Unternehmensführung, bis hin zu Fragen von enormer Brisanz, wie Übernahmeangeboten, reichen. Anlageverwalter, die als Bevollmächtigte fungieren, üben dieses Recht im Namen ihrer Anleger aus.
Über die Beschlüsse von Hunderten börsennotierter Unternehmen, in die ein Anlageverwalter investiert hat, konsistent abzustimmen, stellt eine Herausforderung dar. Diese könnte er meistern, wenn er der Argumentation des „Schleiers des Nichtwissens” von John Rawls folgt. Dieses Konzept zielt darauf ab, die Grundsätze einer gerechten Gesellschaft zu identifizieren und basiert auf der Idee, Entscheidungen (wie etwa Abstimmungsentscheidungen) aus einem „Urzustand“ der Gleichheit zu treffen (durch Anwendung der Prämisse einer „Standardgröße” für alle) ohne Kenntnis jeglicher verzerrender Informationen (wie etwa unternehmensspezifische Fakten). Obwohl kein akademischer Konsens dahingehend vorliegt, was „gute Corporate Governance” ausmacht, haben Anlageverwalter ähnliche Faustregeln aufgestellt, um zu definieren, was ihrer Meinung nach Ausdruck einer guten Governance ist. Diese Regeln sind zwangsläufig reduktionistischer Natur, da sie Grundsätze, an denen sich kluge Geister scheiden könnten, in binäre Ergebnisse verwandeln. Wenn diese Verfahren jedoch als Best Practice etabliert sind, wird zwar Konsistenz sichergestellt, es können aber suboptimale Ergebnisse die Folge sein.
In diesem Newsletter erörtern wir, warum dies der Fall ist, nicht nur, da ein Großteil der „abstimmenden Stimme” von einer kleinen Anzahl großer Akteure dominiert wird, sondern auch, weil die Aktionäre aufgefordert werden, diese „Best Practices” auf komplizierte Fragen anzuwenden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich JHVs von Unternehmen immer mehr zu Plattformen für die Entscheidung über komplexe soziale und ökologische Themen entwickeln.
Als aktive Verwalter mit einer langfristigen Strategie legen wir Wert darauf, dass wir bei der Abstimmung über jeden einzelnen Fall einen sorgfältig durchdachten und jeweils individuellen Ansatz anwenden. Dieses Vorgehen kann bei verschiedenen Unternehmen zu unterschiedlichen Abstimmungsentscheidungen führen, aber dies steht immer in Einklang mit unserer treuhänderischen Pflicht, für unsere Kunden langfristige risikoangepasste Renditen zu erzielen.
Die Macht der zwei „P”: Passiv und Proxy (Stellvertreter)
Heute besitzen Vanguard, BlackRock und State Street gemeinsam 20–30 Prozent nahezu aller US-amerikanischen börsennotierten Unternehmen und sind bei 88 Prozent der S&P 500 der größte Investor (eine Steigerung gegenüber 25 Prozent im Jahr 2000).1 Ebenso wird der Markt für Beratungsleistungen für Stimmrechtsbevollmächtigte, der institutionellen Anlegern Marktforschung und Empfehlungen zur Ausübung des Aktienstimmrechts bietet, von nur zwei Unternehmen beherrscht: Institutional Shareholder Services Inc. (ISS) und Glass, Lewis & Co. (Glass Lewis).2
Zusammengenommen haben diese fünf Akteure zunehmend Einfluss auf die Entscheidungsfindung zur Corporate Governance von Unternehmen gewonnen. Bei passiven Fondsverwaltern werden die Stewardship- und Abstimmungsentscheidungen in der Regel von einem zentralisierten Anlage-Stewardship-Team getroffen, das verantwortlich ist für die Entwicklung von Regeln und Leitlinien zur geplanten Abstimmung über wiederkehrende Themen und die Zusammenarbeit mit Unternehmen. lm Verhältnis zu den Aktien, die sich in ihrem Besitz befinden, sind diese Teams in der Regel relativ klein. So beschäftigt Vanguard etwa 60 Mitarbeitende, die in der Abstimmungssaison 2021 insgesamt 177.307 Vorschläge von 12.937 Unternehmen analysiert und darüber abgestimmt haben.3 Anders ausgedrückt: Jedes Mitglied muss rund 2.900 Vorschläge für mehr als 200 Unternehmen recherchieren, analysieren und diesbezügliche Governance-Entscheidungen treffen. Dies ist eine wahrhaft gigantische Aufgabe, die aus unserer Sicht nur schwerlich mit großer Genauigkeit erledigt werden kann.4
Die Anwendung von Faustregeln in großem Umfang kann zu einem automatischen, unreflektierten Umgang mit Fragen der Corporate Governance führen, wie etwa bei der Abstimmung für Beschlüsse, die prima facie die Unabhängigkeit der Verwaltungsratsmitglieder verbessern, oder bei der pauschalen Abstimmung gegen Aktienstrukturen mit doppeltem Stimmrecht (DIENER ZWEIER HERREN). Was Berater von Stimmrechtsbevollmächtigten betrifft, so entwickeln sie Richtlinien zur Abstimmung bei wiederkehrenden Fragen und geben dann den institutionellen Anlegern, die ihre Untersuchungsergebnisse beziehen, Empfehlungen zur Abstimmung über jede einzelne Frage für jedes einzelne Unternehmen. Obwohl diese Anleger dann entscheiden können, wie sie abstimmen möchten, sieht die Realität so aus, dass viele die Praxis des „Robo-Votums” übernehmen, wobei sie sich automatisch und mit nur minimaler eigener Beurteilung auf die Empfehlungen der Berater von Stimmrechtsbevollmächtigten verlassen.5 Diese Konzentration führt zu einer geringen Vielfalt, was die vorgenommenen Empfehlungen betrifft, und diese Akteure haben die Macht, Abstimmungsergebnisse zu beeinflussen. Die jüngste Entscheidung einiger passiver Verwalter, geeigneten institutionellen Kunden die Möglichkeit zu geben, über ihre eigenen Aktien abzustimmen, scheint dieses Problem zu entschärfen.6 Aber es könnte ebensogut sein, dass das Problem auch nur von einer Ecke in eine andere geschoben wird, wenn die Entscheidungen nicht von Personen getroffen werden, die sich die Zeit nehmen, um die Nuancen bestimmter Vorschläge zu verstehen und in den richtigen Kontext zu setzen.
Die sich entwickelnde Agenda der JHV
In den letzten zehn Jahren haben wir auch einen Wandel festgestellt – von der Vorstellung, dass die alleinige Aufgabe eines Unternehmens darin besteht, Gewinne für seine Aktionäre zu generieren, hin zu der Vorstellung, dass Unternehmen die Interessen aller Stakeholder berücksichtigen müssen. Folglich werden Anlageverwalter zunehmend aufgefordert, komplexe Fragen rund um die ökologischen und sozialen Aspekte der Aktivitäten von Unternehmen zu bewerten. Als treuhänderische Verwalter des Kapitals unserer Kunden müssen wir bei der Entscheidung, wie wir über diese Fragen abstimmen, eine Reihe von Überlegungen berücksichtigen. Wir sind der Ansicht, dass dies verdeutlicht, warum die Anwendung von Faustregeln zu suboptimalen Ergebnissen führen kann.
Erstens sind wir oft damit konfrontiert, herauszufinden, ob mit dem Vorschlag das Problem auch richtig angegangen wird. Bei vielen Vorschlägen ist der Fortschritt das Ziel. Es kann jedoch sein, dass in manchen Fällen ein konkretes Ergebnis besser ist. Der Schwerpunkt liegt zunehmend darauf, Unternehmen zur Reduktion ihrer CO2-Emissionen anzuhalten. Einen Vorschlag zu unterstützen, der vorsieht, dass ein Unternehmen seine CO2-Emissionen um fünf Prozent pro Jahr reduziert, scheint also auf der Hand zu liegen. Aber ist schrittweiser Fortschritt die richtige Lösung? Als Anleger sollten wir die Frage stellen, ob nicht eine CO2-neutrale oder sogar eine CO2-negative Entwicklung ein adäquateres Ziel ist. Außerdem fällt die Antwort unterschiedlich aus, je nachdem, ob es sich um ein Software-Unternehmen handelt oder um eine Aluminiumschmelze. Wir bei Seilern investieren in Unternehmen, die über langfristige, nachhaltige Geschäftsmodelle verfügen und bei bestimmten Umweltkennzahlen (wie etwa CO2-Emissionen) in der Regel sehr gut abschneiden. Daher kann die Fähigkeit dieser Unternehmen, hier Fortschritte zu erzielen, eingeschränkt sein. Die Herausforderung liegt darin, dass die Anlegergemeinschaft Fortschritte häufig priorisiert, auch wenn Ergebnisse (wie in diesem Fall) wichtiger sein könnten.
Bei der nächsten Überlegung geht es darum, wie gut ein bestimmter Vorschlag geeignet ist, um das beabsichtigte Ergebnis zu erreichen. Einige Vorschläge bewirken, dass ein Problem zu stark vereinfacht wird. So kann beispielsweise eine Lösung, bei der ein Unternehmen zur Erfassung und Meldung bestimmter Statistiken aufgefordert wird, den gegenteiligen Effekt haben, wenn zu bloßem Abhaken und Sollerfüllung angeregt wird. Etwas anders ausgedrückt: Wir müssen abwägen, ob bei einem Vorschlag davon ausgegangen werden kann, dass er das „richtige Ergebnis“ zeitigt, wenn die unbeabsichtigten Folgen nicht vollständig berücksichtigt werden oder nicht berücksichtigt werden können. Einer Initiative zur Förderung der Abhängigkeit von einer saubereren Energie oder zur Reduzierung von CO2-Emissionen werden vielleicht gute Arbeitsplätze geopfert oder Produkte für die vulnerabelsten Mitglieder in der Gesellschaft werden dadurch verteuert.
Schließlich ist die sogar Frage relevant, ob wir als Anleger überhaupt qualifiziert sind, diese komplexen Entscheidungen zu treffen. Zugegebenermaßen lautet die Antwort, dass wir wahrscheinlich weniger qualifiziert sind, als wir es gerne wären, insbesondere wenn Vorschläge technische Kenntnisse in Nischenbereichen voraussetzen, damit eine fundierte Bewertung vorgenommen werden kann. Wir sind der Ansicht, dass sich Anleger auf die wenigen großen, richtungsweisenden Entscheidungen konzentrieren sollten, die in ihrem Kompetenzrahmen liegen und die sich auf die langfristige Nachhaltigkeit eines Unternehmens auswirken können, anstatt blind Vorschläge zu unterstützen, die übermäßig präskriptiv sind oder die Art und Weise, wie ein Unternehmen ein bestimmtes Ergebnis erzielt, bis ins Allerkleinste vorgeben.
Aus unserer Sicht gibt es Anlass zur Sorge, dass Anleger, die bei der Betrachtung dieser komplexen Fragen einen formelhaften „Wenn-Dann”-Ansatz verfolgen, vielleicht eher mit „Ja“ stimmen, wenn der Vorschlag bestimmte vordefinierte oder Best-Practice-Qualifikationen erfüllt. Dies erklärt vielleicht, warum die Unterstützung für diese Vorschläge zunimmt.7 Häufig sind diese Beschlüsse nicht bindend, aber dass auf eine bestimmte Weise abgestimmt wird, signalisiert der Unternehmensführung das Engagement dafür, die Sache voranzubringen. Und das ist für uns Grund genug, um innezuhalten und nachzudenken.
Fazit
Die von Anlageverwaltern bei der Abstimmung auf JHVs der Unternehmen angewendete „Standardgrößen”-Maxime und die Argumentation des Schleiers des Nichtwissens ist eine weniger beachtete Folge der Zunahme passiver Fonds. Wenngleich dieser Ansatz in der Theorie angemessen und vernünftig erscheint, besteht nach unserer Ansicht ein dreifaches Risiko. Erstens: Die „abstimmende Stimme” konzentriert sich mittlerweile auf eine kleine Anzahl von Akteuren mit dem Potenzial, die Abstimmungsergebnisse zu beeinflussen. Zweitens: Anleger werden zunehmend aufgefordert, sehr komplexe Probleme zu beurteilen, die auf weniger Variablen reduziert werden, als für die Lösung erforderlich sind – und eine übermäßige Vereinfachung komplexer Probleme kann dazu führen, dass eine richtige Absicht zu einem falschen Ergebnis führt. Drittens: Diese Probleme werden an Menschen herangetragen, die nicht unbedingt in der Lage sind, sie zu lösen.
Als aktiver Verwalter mit einem konzentrierten Portfolio sind wir nicht an Faustregeln gebunden. Wir sind uns bewusst, dass Nuancen wichtig sind und dass in einigen Fällen Best Practices zu unerwünschten Ergebnissen führen können, sowohl in Bezug auf die Rendite als auch auf das endgültige Ziel, welches die Befürworter dieser Beschlüsse erreichen wollen. Wir bei Seilern investieren in Unternehmen, die über langfristige, nachhaltige Geschäftsmodelle verfügen. Unsere Aktivitäten als Anleger sind stets darauf ausgerichtet. Es kann sein, dass bei Unternehmen im Seilern-Universum Situationen eintreten, in denen die Anwendung unserer Grundsätze bei ähnlichen Sachverhalten zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen führt, aber dies steht immer in Einklang mit unserer treuhänderischen Pflicht, für unsere Kunden langfristige, risikoangepasste Renditen zu erzielen.
C. Hoelzl,
30. September 2022
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