Der Technologiesektor dominiert die heutigen Finanzmärkte und macht nach Marktkapitalisierung fast 30 Prozent des S&P 5001 aus. Verständlicherweise nehmen Investoren zuallererst die Spitzentechnologien dieser Unternehmen in den Blick. Dies könnte jedoch dazu führen, dass ebenfalls bestehende Wettbewerbsvorteile von Tech-Unternehmen in traditionellen Geschäftsbereichen wie Vertrieb und Logistik übersehen werden. Wir haben früher bereits angesprochen, wie der Technologiegigant Google die entscheidende Schaltstelle Vertrieb zur Schaffung von erheblichen Marktbarrieren nutzte. Dieser Newsletter lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Non-Tech-Unternehmen, insbesondere jene, die vom digitalen Zeitalter profitieren wollen, und darauf, wie solche Akteure digitale Technologie zur Verbesserung ihrer Marktposition einsetzen können.
L’Oréal, ein Hersteller von Kosmetikprodukten für Haut- und Haarpflege sowie Make-up und Parfüm, ist weltbekannt und muss nicht vorgestellt werden. Dieser seit Jahrhunderten bestehende Big Player, der für sein herausragendes Marketing bekannt ist, hat die rasanten Veränderungen im digitalen Zeitalter nicht nur bewältigt, sondern seine Position als globaler Marktführer im Beauty-Sektor sogar gefestigt und ausgebaut. Sein globaler Marktanteil erhöhte sich von etwa 8 Prozent Anfang der 2000er Jahre auf knapp 15 Prozent heute. Die operative Marge stieg währenddessen vom niedrigen zweistelligen Bereich auf fast 20 Prozent. Man würde vielleicht nicht unbedingt erwarten, dass digitale Technologie eine Schlüsselrolle bei diesem Erfolg gespielt hat.
2010 rief man bei L’Oréal den «digitalen Notstand» aus und entschied, sich zu einem «Digital-First»-Unternehmen zu wandeln. Die Digitalisierung in der Kosmetikbranche stand zu dieser Zeit noch in ihren Anfängen. Allerdings hinkte L’Oréal schon damals keinesfalls hinterher. Das Unternehmen hatte bereits IT-Infrastruktur aufgebaut und Informationstechnologie in seinen täglichen Betrieb integriert, einschliesslich Online-Werbung für Konsumenten, die das Internet schon komplett in ihren Alltag integriert hatten und z. B. für die Suche nach Produktinformationen und die Kommunikation in sozialen Medien nutzten. Aber die Geschäftsleitung von L’Oréal sah noch viel mehr Potenzial für neue Technologien. In den folgenden zehn Jahren baute das Unternehmen schrittweise eine digitale Kultur auf, indem es Digitalisierung in jeden Aspekt seines Geschäftsmodells integrierte. Und auch die digitale Strategie entwickelte sich allmählich über blosses «Digital First» hinaus zu einer der besten der Branche.
Figure 1: L’Oréals digitale Entwicklung 2010-20202
Quelle: Unternehmensinformationen
Eine der grössten Herausforderungen, vor denen die Beauty-Branche seit jeher steht, ist die Prognose zukünftiger Nachfrage, da sich Geschmäcker, Moden und Vorlieben der Verbraucher ständig verändern. Hierfür hat L’Oréal ein System namens TrendSpotter entwickelt. TrendSpotter sammelt Millionen relevanter Online-Daten wie Beiträge, Artikel, Bilder und sogar Audio- und Videoclips im Internet und in sozialen Medien. Anschliessend analysiert das System mithilfe künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen Daten und Muster, erkennt dadurch Beauty-Trends in einem sehr frühen Stadium und hilft dem Unternehmen, drei wichtige Fragen zu beantworten: «Was ist aktuell im Trend?», «Was ist neu?» und «Was kommt als Nächstes?» Anschliessend beurteilen Experten diese Muster daraufhin, ob sie Trends darstellen, die für die Produktentwicklungs- und Marketingteams von L’Oréal nützlich sein können. Charles Besson, Global Social Insights und KI-Direktor von L’Oréal, formuliert es so: «Entscheidend ist, dass wir die Trends von morgen vor der Konkurrenz erkennen.»3 Das ist so wichtig, weil es etwa ein Jahr dauert, bis aus einer Idee ein Produkt im Regal geworden ist. Einen Trend Monate vor der Konkurrenz zu erkennen, kann L’Oréal einen erheblichen Vorteil verschaffen. Die auf diese Weise gewonnenen Informationen werden auch von Marketing- und Consumer Intelligence-Teams genutzt, um direkt aus dem Verbraucherfeedback abgeleitete Inhalte bei der Kommunikation mit Kunden und Zielgruppen zu verwenden.
TrendSpotter war nur eine von mehreren Anwendungen, die im Rahmen der «Demand Sensing»-Initiative von L’Oréal entwickelt wurden. Mit seiner breiter angelegten Initiative hat das Unternehmen auch seinen Sales and Operations (S&OP)-Prozess verändert, der Vertrieb, Marketing und Finanzen auf die Lieferkette ausrichtet. Dieses System erstellt in einem einzigen Tool Nachfragepläne für jedes der 150 Länder, in denen L’Oréal vertreten ist, berechnet und konsolidiert dann den entsprechenden Bedarf von den Rohstoffen bis zu Verpackungskomponenten, definiert Produktionspläne für 40 Werke weltweit und übernimmt sogar die konkrete Fertigungsplanung. Um jedoch die Vorteile dieses innovativen Tools voll nutzen zu können, sind Daten unverzichtbar. Aber wie so häufig gilt auch hier das alte IT-Motto «Müll rein, Müll raus». Der Datenumfang, der Zeitdruck bei der Datenverarbeitung und die benötigte Granularität der Daten sind herausfordernd, und da L’Oréal sich darüber im Klaren ist, unternimmt es seit mindestens einem Jahrzehnt fortlaufende Anstrengungen, um in Datenprogramme und -plattformen zu investieren und sie zu verbessern.
In einer früheren Phase hat das System beispielsweise ausschliesslich historische und interne Daten verwendet. Jetzt integriert es mithilfe einer Cloud-Plattform (Platform-as-a-Service) auch Daten aus externen Quellen, insbesondere von Lieferanten, sodass alle Anforderungen an Rohmaterial und Komponenten4 in Echtzeit gegenüber dem grossen Lieferantenstamm des Unternehmens kommuniziert werden können. Die Plattform integriert auch Verkaufsdaten für Sell-in (Händlerbestellungen beim Vertrieb) und Sell-out (tatsächliche Kundennachfrage) sowie direkte Verkäufe an Endkunden über Online-Kanäle oder in Stores. Die Anwendung von maschinellem Lernen auf all diese Daten kann die Berechnung der Bedarfsplanung automatisieren. Darüber hinaus werden Veränderungen oder Verlagerungen der Nachfrage auf dem Markt oder in der gesamten Lieferkette erkannt und können in Echtzeit in Entscheidungen zu Bestandsverwendung, Bestandsplanung, Beschaffung und Produktionslinien einfliessen. «Demand Sensing»-Initiativen haben die Genauigkeit der Nachfrageplanung deutlich verbessert, die Produktentwicklung und die Markteinführungszeit verkürzt und gleichzeitig die manuellen Eingriffe in den Prozess um geschätzte 50% reduziert. Der Erfolg des Supply Chain Managements des Unternehmens wurde auch extern festgestellt. Das weltweit tätige Technologieforschungs- und Beratungsunternehmen Gartner veröffentlicht jährlich eine Rangliste der weltweit führenden Lieferketten. Während L’Oréal 2012 nur auf Platz 71 der Welt stand, zählte es 2020 erstmals zu den Top 10.
«Demand Sensing» ist nur eine von vielen Initiativen im Rahmen des expansiven «Beauty Tech»-Konzepts von L’Oréal. Es zielt darauf ab, die Kosmetikbranche über das reine Produktangebot hinaus in Richtung unterschiedlicher Dienstleistungen wie z. B: Diagnose, Verbrauchererfahrung und Personalisierung weiterzuentwickeln. Gesamtbild und Wirkungsbereich von «Beauty Tech» gehen weit über den thematischen Umfang dieses Newsletters hinaus. Dennoch vermitteln schon die hier erwähnten einfachen Beispiele einen Eindruck von den vielen Vorteilen heutiger Technologie. TrendSpotter hilft L’Oréal dabei, Verbrauchertrends schnell und wirksam zu erkennen und darauf zu reagieren. Eine technologiegestützte Lieferkette ermöglicht flexible Fertigung und flexiblen Vertrieb und damit die Anpassung an eine immer stärkere Volatilität bei der Nachfrage. Dies steigert nicht nur die Effizienz und Resilienz, sondern senkt auch Kosten und beschleunigt die Produkteinführung. Allgemein gesagt wollen wir mit dem Beispiel L’Oréal zeigen, dass Technologie heute für einige der bestgeführten Non-Tech-Unternehmen der Schlüssel zur Erlangung einer besseren Wettbewerbsposition sein kann.
N. Yu,
29. Februar 2024
- Die tatsächliche Bedeutung der Technologieunternehmen für die Wirtschaft wird damit nicht wiedergegeben, da viele im Technologiebereich aktive Unternehmen formell nicht dem Technologiesektor zugeordnet sind. Beispielsweise wird Google im Bereich der Kommunikationsdienstleistungen geführt und Amazon als Anbieter von Nicht-Basiskonsumgütern. Unter anderem deshalb sind wir der Ansicht, dass Sektorklassifizierung irreführend sein kann, wie wir in diesem Newsletter dargelegt haben. ↩︎
- https://www.imd.org/research-knowledge/supply-chain/case-studies/l-oral-the-beauty-of-supply-chain-digitalization/ ↩︎
- https://www.digitalcommerce360.com/2022/02/24/how-loreal-uses-ai-to-stay-ahead-of-its-competition/ ↩︎
- L’Oréal arbeitet mit mehr als 50 000 Lieferanten und liefert selbst seine Produkte an 500 000 Stellen. ↩︎
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