Überlegungen zum „Kami-Kwasi“-Haushalt1
Im September 2022 erlitten die Märkte für britische Staatsanleihen (Gilts) einen drastischen Kurseinbruch, da die Liquidität in diesem großen und wichtigen Markt auf der Kauf- und auf der Verkaufsseite versiegt war. Als die britische Premierministerin Liz Truss, die es nicht lange im Amt halten sollte, und ihr Finanzminister Kwasi Kwarteng ankündigten, das Wachstum durch kräftige Steuersenkungen ankurbeln zu wollen, obwohl die Inflation gerade galoppierte und die Staatsschulden stark anstiegen, ging der Außenwert des Pfund Sterling stark zurück. Gleichzeitig gingen die Kurse von Gilts durch den Boden, und die Marktteilnehmer suchten das Weite. Die Käufer machten sich rar und standen Scharen von Anbietern gegenüber, die zum Verkauf gezwungen waren.
Dabei handelte es sich in erster Linie um Pensionskassen mit LDI (Liability-driven Investment)-Derivaten, die den Nachschussforderungen ihrer Makler und Banken nachkommen mussten, um den starken Rückgang der Gilt-Kurse auszugleichen. Um die Nachschussforderungen auf ihre Derivate zu erfüllen, waren diese Einrichtungen verpflichtet, immer mehr Gilts zu verkaufen, wodurch die akute Liquiditätskrise noch verschärft wurde. Am Ende schritt in letzter Instanz die Bank of England als Käuferin und Market Maker ein, während die Geldpolitik der Zentralbank jedoch eigentlich darauf abzielte, die Zinssätze zu erhöhen und die Liquidität an den Finanzmärkten zu verknappen. Die diesem Kurs zuwiderlaufende, quantitative Lockerung in einem so wichtigen Marktsegment und in Zeiten galoppierender Inflation sorgte weltweit für fassungsloses Kopfschütteln.
Kollaps und Überschwappen auf die USA
Für nicht weniger Aufregung sorgte im Berichtsmonat sechs Monate später der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank (SVB), der Signature Bank und der First Republic Bank (FRB) in den USA. Es herrscht weiterhin große Unsicherheit, da sich der Stress aus ähnlichen Gründen nunmehr auch auf andere regionale Institutionen wie Keycorp, Comerica, Zions Bancorp und Truist Financial ausbreitet, um nur einige zu nennen. Infolge des Scheiterns der SVB, der sechzehntgrößten Bank der USA, in Zeiten restriktiver US-Geldpolitik gingen weltweit Schockwellen durch die Finanzmärkte und den Bankensektor. Bald wurde deutlich, dass das Bilanz- und Zinsrisikomanagement der SVB alles andere als optimal war und die Bank die Einlagen ihrer Kunden im großen Umfang in verschiedene Arten von festverzinslichen Wertpapieren reinvestiert hatte, vor allem in US-Treasuries mit langen Laufzeiten. Wie im Bankgeschäft oft üblich, hatte das Institut kurzfristig Geld von seinen Einlagenkunden geliehen und dieses in langfristige Anlagen reinvestiert. In Zeiten normaler Renditekurven, in denen das längerfristige Risiko durch einen höheren Kupon belohnt wird als bei kurzfristigen Anlagen, wäre es durchaus gängige Praxis gewesen, kurzfristig Geld aufzunehmen und es langfristig weiterzuverleihen. Wenn sich die Renditekurven jedoch stark umkehren, wie es unter den aktuellen Marktbedingungen der Fall ist, muss diese Strategie scheitern. Der drastische Kursrückgang bei den Staatsanleihen wurde der SVB und ihren Einlegern schließlich zum Verhängnis. Die in letzter Minute unternommenen Versuche der Bank, ihre Bilanz durch eine eilig organisierte und letztendlich gescheiterte Kapitalerhöhung zu stützen, kamen zu spät, um einen Sturm auf die Bank zu verhindern. Nach Angaben des Wirtschaftsmagazins Forbes zogen die Hauptkunden der Bank Einlagen in Höhe von insgesamt 42 Mio. US-Dollar ab, was der Bank eine negative Liquiditätsposition bescherte. In kürzester Zeit wurden ganze 25 Prozent der Einlagen abgezogen.
Darüber hinaus übten der CEO der Bank und ein Großteil des leitenden Managements ihre Aktienoptionen aus und verkauften ihre Aktien, während die SVB auf den Zusammenbruch zusteuerte. Die Tatsache, dass die SVB in der Nische der Tech-Start-ups und Risikokapitalunternehmen tätig war, lässt nicht den Schluss zu, dass es sich um eine einzelne, isolierte Krise handelt. Das Ausmaß des Problems ist größer. Als die First Republic Bank kollabierte, platzierte eine Gruppe von US-amerikanischen Universalbanken gemeinsam rund 30 Milliarden US-Dollar neuer Einlagen in der Bank. Nichtsdestotrotz setzte ihr Aktienkurs nach der Ankündigung seine Talfahrt fort.
Die Krise breitete sich aus. Die Aktienkurse internationaler Banken gerieten weltweit unter Druck, selbst in Regionen wie Europa, wo die Banken infolge mehrerer Stresstests seit der globalen Finanzkrise 2008 nach wie vor gut kapitalisiert sind. Die Federal Reserve steht im Kreuzfeuer der Kritik, und Beobachter fragen sich, ob die US-Notenbank offenbar geschlafen oder weggesehen hat, während die Probleme der SVB in den letzten Monaten immer weiter zunahmen. Die restriktive Rhetorik des Fed-Vorsitzenden Jerome Powell nur 48 Stunden vor dem Debakel der SVB wirft die berechtigte Frage auf, wie es so kurz vor einem Bankenversagen solchen Ausmaßes zu diesen Äußerungen kommen konnte.
Allerdings wurden einige der Reformen des Dodd-Frank Act, die nach der globalen Finanzkrise 2008 eingeführt worden waren, von Präsident Donald Trump später wieder zurückgenommen, wodurch kleinere Banken von einigen der rigoroseren Liquiditätsanforderungen ausgenommen wurden, an die sich ihre größeren Mitbewerber halten mussten. Jetzt fordern die üblichen progressiven US-Politiker, dass diese strengeren Liquiditätsanforderungen auch für kleinere Banken wieder eingeführt werden. (Das progressive Lager in den USA feiert gerade seine Ruhmesstunde). Gleichzeitig schichten unzählige Einlagenkunden ihre Ersparnisse in Geldmarktfonds um, die bei der Kreditschöpfung nur eine geringe oder gar keine Rolle spielen. Obwohl viele dieser Fonds letztlich in US-Treasuries anlegen, deutet die Reaktion des Anleihemarktes, die die Renditen nach unten drückt, darauf hin, dass dieser Trend, sollte er denn anhalten, eine ebenso deflationäre Wirkung entfalten würde wie die Liquidierung einer Reihe wichtiger US-Banken.
Nachbeben bei den Zinssätzen
Entscheidend ist jedoch, dass – anders als nach dem Debakel der Gilts im letzten Jahr – die Kurse von Anleihen an den reifen Weltmärkten wegen dem Zusammenbruch der SVB kräftig gestiegen sind. Dies war zugegebenermaßen teilweise auf die starke Deckung der allgemein beliebten Short-Positionen durch Hedgefonds zurückzuführen. Obwohl Bewegungen solchen Ausmaßes häufig auf technische Faktoren zurückzuführen sind, bevor sie grundlegende Veränderungen auf den Finanzmärkten signalisieren, ist dennoch auffällig, dass der US-Anleihemarkt die genau gegenteilige Reaktion zu der Sterling- und Gilt-Krise im letzten Jahr zeigte.
Dies wirft die berechtigte und grundlegende Frage auf, warum die Kurse von Anleihen in Großbritannien unter Druck geraten waren, während die US-Anleihekurse nach dem Zusammenbruch der SVB regelrecht durch die Decke gingen, und dies in einer Dynamik, die an die Zeit nach dem Schwarzen Montag erinnert, als die US-Aktienmärkte 1987 in einer Sitzung ganze 20 Prozent einbüßten. Short-Positionen decken und Erlöse in Anlagen reinvestieren, die als sichere Häfen wahrgenommen werden – das ist normales Verhalten von Spekulanten bei solchen Debakeln. Und dass die Kursvolatilität zunimmt, wenn die Liquiditätsprobleme unter solchen Bedingungen wachsen, ist ebenfalls eine unausweichliche Tatsache.
Doch es gibt einen Unterschied zwischen der Gegenwart und dem Herbst 2022. Damals waren die Inflationsraten und Inflationserwartungen sowie die Zinserwartungen stark im Anstieg begriffen, ebenso wie die weltweiten Anleiherenditen. Die Zentralbanken wurden oft als der realwirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinkend wahrgenommen, was zu restriktiver Rhetorik sowohl der US-Notenbank als auch der Europäischen Zentralbank führte. Seither haben jedoch mehr als ein Dutzend Zentralbanken rund um den Globus, darunter auch solche von großen Ländern, mit einer geldpolitischen Lockerung begonnen, da sich der Verlauf der Inflationszahlen, die zwar immer noch zu hoch sind, offenbar geändert hat. Trotz der weiterhin restriktiven Haltung der führenden Zentralbanken ist eine wachsende Zahl von Kommentatoren der Ansicht, dass das Ende der geldpolitischen Straffung in Sicht ist.
Es liegt auf der Hand, dass das Ausmaß vergangener Zinsanhebungen durch die Zentralbanken darauf hindeutet, dass der Großteil der Straffung hinter uns liegt, auch wenn die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft noch voll zu spüren sind. Zudem ist es statistisch gut belegt, dass Aktienmärkte tendenziell nach vorn blicken und künftige Entwicklungen vorwegnehmen. Wenn die Inflation nachlässt, das Wirtschaftswachstum ins Stocken gerät, die Gewinnerwartungen von Anlegern und den Unternehmen selbst nach unten korrigiert werden, Spannungen im Interbankensektor spürbar sind und noch weitere Faktoren vorliegen, drängt sich die Schlussfolgerung auf, die Zinssätze und Anleiherenditen könnten sich anders – und möglicherweise deutlich anders – entwickeln als in den letzten achtzehn Monaten.
Sollte es tatsächlich so kommen, wie sich noch zeigen wird, kann das Verhalten der Aktien- und Rentenmärkte im Zuge des Niedergangs der SVB nicht mit der Krise von Gilts und britischen Pfund infolge des LDI-Debakels im September verglichen werden. Während damals zahlreiche Banken- und Finanzwerte heftig in Mitleidenschaft gezogen wurden, haben die Aktienkurse von langlebigen Titeln wie erstklassigen Quality Growth-Unternehmen von der außergewöhnlichen Trendwende an den Rentenmärkten profitiert, welche die Renditen über alle Märkte und Laufzeiten hinweg einbrechen ließ, insbesondere am inflationssensitiven kurzen, aber auch am längeren Ende.
Schweizer Versagen und verpufftes Vertrauen
Und dann kam die Krise um Credit Suisse. Die altehrwürdigste aller Schweizer Banken hatte seit Jahren mit Skandalen und Misswirtschaft zu kämpfen. Die Top-Manager gaben sich die Klinke in die Hand. Der derzeitige CEO und der Verwaltungsratspräsident der Bank sind relativ neu im Amt. Massive Verluste im Jahr 2022 machten alle Gewinne aus dem letzten Jahrzehnt zunichte. Während des Debakels der US-Banken standen die Kurse von Bankwerten weltweit stark unter Druck.
Die Aktie von Credit Suisse befand sich in freiem Fall, was unter anderem auf den starken Abfluss von Geldern der professionellen Einlagenkunden zurückzuführen war (im Gegensatz zu nicht professionellen Kleinanlegern, denen häufig nicht klar ist, dass eine Einlage zu tätigen bedeutet, einer Bank Geld zu leihen). Selbst die eigenen Mitarbeiter von Credit Suisse haben das Vertrauen verloren und ihre Einlagen abgezogen.
Trotz jahrelanger Skandale in Verbindung mit Greensill, Archegos und anderen schien die risikobereinigte Bilanz von Credit Suisse – gemessen an ihrer Liquiditätsdeckungsquote, der Kernkapitalquote nach Basel III und ihrer Verschuldungsquote – robust zu sein, was im aktuellen Umfeld „risikobereinigt“ auch immer bedeuten mag. Die 50 Milliarden Schweizer Franken schwere Finanzierungsvereinbarung zwischen Credit Suisse und Schweizerischer Nationalbank war strenggenommen nicht nur gigantisch, sondern auch mehr als notwendig. Die Credit Suisse setzte diese Liquiditätsspritzen unter anderem für den Rückkauf ihrer öffentlich gehandelten Anleihen ein, die mittlerweile stark (auf ihren Nennwert) gesunken waren. Dennoch setzte sich der Leerverkauf der Aktien der Bank erbarmungslos fort.
All dies zeigt, dass nicht nur Credit Suisse Vertrauen eingebüßt hat, sondern der gesamte Bankensektor. Wenn eine Bank von einem Skandal nach dem anderen gebeutelt wird, ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Zuversicht dahinschmilzt. Die Anleihen der Credit Suisse befinden sich nach der unvermeidlichen Herabstufung durch die Rating-Agenturen in der Kategorie „Notleidend“.
Schließlich, nach einer Woche frenetischer Verhandlungen zwischen Regierung, Eidgenössischer Finanzmarktaufsicht FINMA und Schweizerischer Nationalbank sowie weiterer Akteure stimmte die Union Bank of Switzerland (UBS), die größte Schweizer Bank, der Übernahme der Credit Suisse mit einem starken Abschlag gegenüber ihrem Börsenwert zu. Die UBS unterbreitete den Aktionären von Credit Suisse einen All-Share Deal.
In einem umstrittenen Schritt, der einen Aufschrei des Protests auslöste, wurden allerdings die Inhaber von AT1-Anleihen, auch CoCo-Bonds genannt, rasch aus der Rechtsstellung entlassen, nach der Anleiheinhaber vorrangig vor den Aktionären bedient werden. Die Papiere der AT1-Anleiheinhaber wurden für wertlos erklärt und es ist damit zu rechnen, dass dieser große Markt austrocknen wird, obwohl dieses Instrument erst nach der globalen Finanzkrise von 2008 geschaffen wurde. Ursprünglich waren die AT1-Anleihen entwickelt worden, um das Problem der Unterkapitalisierung internationaler Banken anzugehen, wobei die Papiere in Europa stärker verbreitet waren als in den USA.
Durch die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS, die letzterer von der Schweizer Regierung aufgezwungen wurde, wird die UBS nicht nur „too big to fail“, sondern de facto auch zu einer staatlichen Bank. Künftig wird der Staat bei Entscheidungen, die von der Wachstumsstrategie über die Ernennung von Vorstandsmitgliedern bis hin zur Vergütungspolitik und darüber hinaus reichen, starken Einfluss auf das Management der Bank nehmen. Das ist der Preis, den die UBS bezahlen musste, nachdem sie 2008 ebenfalls durch den Staat gerettet wurde.
Fazit
Die Spekulationen, Gerüchte und Signale werden in den kommenden Wochen und Monaten kein Ende nehmen. Aber was sich hinter den Kulissen und unter dem Radar abspielt, hat wahrscheinlich mehr Bedeutung als alles andere. Interbanken-Arrangements an den Grenzen des Bankgeschäfts werden derzeit geprüft. So untersagte BNP Paribas beispielsweise ihren Wertpapierhändlern, Derivatgeschäfte mit der Credit Suisse zu tätigen. Zwar ist dies klarerweise nur eines von vielen Beispielen. Doch die Credit Suisse war über ihre US-amerikanische Tochtergesellschaft ein bedeutender internationaler Akteur im Derivatehandel. Durch diese Reduzierung der Aktivität hinter den Kulissen werden die Inflationsaussichten rosiger und die Wachstumsaussichten düsterer.
Dass Banken niemals Teil des Seilern-Universums der reinen Quality Growth Unternehmen oder eines reinen Quality Growth Portfolios sein können, lag schon immer auf der Hand. Per definitionem kann keine der 10 Goldenen Regeln für Quality Growth-Anlagen auf den Bankensektor Anwendung finden. Wenngleich zahlreiche Banken von kompetenten Managern geführt werden und angemessene und manchmal steigende Gewinne erzielen, sind sie letztlich ein Spielball des Geldpreises, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Dementsprechend kann es keine verlässliche Prognose für künftiges Wachstum oder Gewinne geben. Nichtsdestotrotz müssen Quality Growth Investoren ein waches Auge auf den Bankensektor und die Rentenmärkte haben, die eng miteinander verbunden sind und wesentlichen Einfluss auf die Aktienmärkte ausüben.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Realwirtschaft 2022 auf Expansionskurs blieb, während an den Finanzmärkten die Aktien- und Anleihekurse einbrachen, ist es wahrscheinlich, dass jetzt ein anderer Wind weht.
Dabei hat die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Rezession bei einer gleichzeitigen Rallye der Finanzmärkte zugenommen, da sich die Prognosen für Zinssätze und Inflation grundlegend verändert haben.
Das Blatt hat sich vorerst gewendet.
P. Seilern
22. März 2023
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